Berg // Sebastian Bartel, Vera Engel, Balz Isler, Juliane Schmidt, KUNSTRAUM 53

Spielzeit 2016/17 des Literaturhaus St. Jakobi

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  Bild: Vera Engel

Die Größe des Bergsteigens liegt in dem Gefühl von Hoffnungslosigkeit und Wiedergeburt. Es ist eine Erfahrung und Eroberung des eigenen Innern, dessen Felder sich in der Erfahrung des Verlorenseins auftun. Derart sind die Beschreibungen Reinhold Messners, einer der bedeutendsten Bergsteiger. Das effektive Koordinieren von Bergbesteigungen stellt für ihn ein Kassieren und Abhaken desselben dar. Es liefert genau das Gegenteil dessen, was die Suche nach Unschuld und authentischer Erfahrung verspricht – nämlich den Gipfel.

Das Literaturhaus St. Jakobi Hildesheim zeigt in Zusammenarbeit mit dem Kunstraum 53 eine Ausstellung zu der neuen Spielzeit 2016/17.
Bespielt wird das Foyer der Kirche, ihre Transit-Zone. Die K
omplementarität der hier versammelten Arbeiten greift dies auf. Sie sind visuell, im Raum platzierte Objekte, oder stellen sinnliche Bezüge her.
Als Pilgerkirche aus dem 13. Jahrhundert ist dieser das Motiv des Wanderns als räumlichen Transfer wesentlich eingeschrieben, der sich aus Impulsen unterschiedlicher Dimensionalität speist, sie begleitet und schließlich den Zugang zum Raum selbst verändert.
Anstatt jedoch die abstrakt sakrale Dimension ästhetischer Erfahrung erörtern zu wollen, kontextualisiert sich die Ausstellung in dem Thema der Spielzeit des Literaturhauses. Dieses hat eine konkret materielle Hinsicht und lautet: „Berg“.

Der Ausstellungsraum verbindet die übrigen Kirchenräume. Eingefasst wird er von Druck-Arbeiten, die im Rahmen von Vera Engels1 Abschlussarbeit in Leipzig entstanden sind – neben Hildesheim der Studienort für deutschsprachiges junges Literarisches Schreiben.

Die Arbeiten setzen sich mit dem Wandern auseinander und haben Bergregionen sowohl aus Spanien als auch der heimatlichen Rhön zum Motiv. Es werden Konkretion und Abstraktion von „Berg“ verhandelt.

Das Hinaufsteigen der Menschen auf die Dächer der Welt ist konnotiert mit einer existenziellen Archaik. Die Eroberung eines solchen Lebensgefühls durch das Sportive muss aus der Perspektive des heroischen Alpinismus einem Niedergang gleichkommen. In „Die Philosophie des Kletterns“ vergleicht Ben Levey die verschiedenen Arten zu Klettern mit Arten des Essens, wobei das Sportklettern im Vergleich zum traditionellen Klettern die Variante des Fast Food einnimmt.

Die Videoarbeit von Juliane Schmidt2 zeigt einen Paukisten, der in chronologischer Reihenfolge die Schlusstakte aller Sinfonien Ludwig van Beethovens spielt. Unter Auslassung des Schlussakkords jedoch lösen sich die Steigerungen nicht auf, sie gehen vielmehr ineinander über in ein nicht enden wollendes „Klettern“. Im permanenten Spiel der Partituren scheint zugleich das Leerlaufen eines Erklimmens auf, wie Albert Camus‘ Sisyphos es zu tun bestimmt war, dem wohl tragischsten aber auch heroischsten Bergsteiger. Die ewige Wiederholung des Felsenrollens transformierte er in eine Haltung der Revolte. Ironie ist auch hier zu finden.

Zwischen den Zwängen von Lifestyle und Asketik bewegt sich die Monotonie des Weitergehens, die nutzlose Eroberung, die Eroberung des Nutzlosen. George Mallory, Wegbereiter der Mount Everest-Besteigung, entgegnete auf die Frage nach dem Grund seines Expeditionswunsches: Because it’s there.

Als Objekte im Ausstellungsraum präsent sind zwei Arbeiten aus Sebastian Bartels3 Reihe „Marks and Signs“. Polygon und an Geoden erinnernd, treten sie uns an der Grenze zwischen Malerei und Skulptur gegenüber. Sie verweisen auf den geologischen Kern von Felsmassiven, die aufgeschnitten sowohl den Charakter von Schaustücken als auch von Schmuck übernehmen können. Kartographie und Vermessung finden sich als Referenzen in der begleitenden Kohlezeichnung einer Gesteinsformation. Ist unser Standpunkt der eines mikroskopischen Zooms, oder fällt unser Blick auf die Dinge aus einer Vogelperspektive?

Den Berg als Erfahrungsraum macht auf spezifische Weise die Arbeit von Balz Isler4 zugängig. Als Kontrapunkt zur Arbeit von Juliane Schmidt wird hier das Relief der Landschaft selbst zum Notengeber. Die Lochstanzung eines Schnitts durch das Hildesheimer Umland macht als Schlaufe für die Dreh-Orgel Berg und Raum für uns neu übersetzte erfahrbar. Es entsteht ein akustisches Archiv von Bild-Melodien, das eine Aneignung der Erscheinung von Orten festhält und verfügbar macht. Atmosphären finden ihre tonale Entsprechung.

Der Kunstraum 535 kommentiert mit einer eigenen Arbeit Raum und Thematik. Ein „Alpinum“ verschiedener, in Gebirgsregionen heimischer Pflanzen hängt als fragmentierte Gruppe einzeln beleuchtet im Raum. Akkumulierte Botanik, die sich und das Raumklima im Ausstellungszeitraum unmerklich, doch stetig verändert.

Wie ist das Verhältnis des Berges als Naturraum zu dessen Kulturalisierung, von Rahmung und Erfahrung? Heroisch und sisyphal wäre allein die Haltung Messners:

Der Gipfel gehört dir erst, wenn du wieder unten bist. Ein Gipfel gehört dir nie!

 

Künstlerische Leitung: Philipp Valenta und Julien Rathje

 

//Termine

Am 28.10. ist ein Begleitprogramm mit Künstler_innengesprächen
und einem performativen Vortrag geplant.

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1Vera Engel (*1991) studierte an der Universität Leipzig Kunstpädagogik und Oktober 2015 den Masterstudiengang Kunstwissenschaft an der HBK Braunschweig. Sie ist Forschungsstudentin am dortigen Graduiertenkolleg „Das Fotografische Dispositiv“. Ihre hauptsächlichen Ausdrucksmedien sind Fotografie und Druckgrafiken und sie arbeitet an der Schnittstelle von Theorie und Praxis.

2Juliane Schmidt (*1982) studierte Freie Kunst an der Bauhaus-Universität Weimar sowie Bildende Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Dresden bei Prof. Monika Brandmeier, welches Sie 2013 mit dem Meisterschülertitel abschloss. Sie erhielt unter anderem das Stipendium kunstgenerator Viersen sowie den Robert-Sterl-Preis der Sammelstiftungen Dresden. Juliane Schmidt lebt und arbeitet in Dresden.

3Sebastian Bartel (*1982) studierte zuerst Archäologie und Geographie in Köln, später Bildende Kunst an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig und schloss 2014 bei Prof. Wolfgang Ellenrieder mit dem Meisterschülertitel ab. Er erhielt 2015 ein Stipendium auf Schloss Ringenberg sowie das Friedrich Vordemberge-Stipendium der Stadt Köln. Sebastian Bartel lebt und arbeitet in Köln.

4Balz Isler (*1982) studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, in Zeitbezogenen Medien bei Marie-José Burki und Jeanne Faust. 2011 diplomierte er mit Auszeichnung und erhielt das „Stipendium zur Förderung des künstlerischen und wissenschaftlichen Nachwuchses der Freien und Hansestadt Hamburg“ und wurde der vierzehnte Stipendiat bei „Junge Kunst in Essen“ am Kunsthaus Essen. Balz Isler lebt und arbeitet in Berlin.

5Der KUNSTRAUM 53 ist eine Initiative von Studierenden der Universität Hildesheim und der Hochschule für angewandte Wissenschaft und Kunst Hildesheim. Er existiert seit 2014 als Experimentierfeld für unterschiedliche künstlerische Formate und als Erprobungsraum für kuratorische Konzepte. Im Oktober diesen Jahres wird er in der Hildesheimer Nordstadt (Ottostr. 7) neu eröffnen.